Zeichen der Macht der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation waren die Reichskleinodien: Reichskrone, Reichskreuz, Reichsschwert, Heilige Lanze sowie bei der Krönung das Zepter und der Reichsapfel.
Über diese Reichskleinodien, ihre Herkunft, ihr Alter, ihre Herstellung gibt es keine verlässlichen Angaben. Ihre Geschichte besteht aus Mythen, Legenden und auch aus wissenschaftlichen Hypothesen, die Beweise dafür fehlen jedoch.
Die Krone selbst, und ihr wichtigster Edelstein – der Waise – gelten als Symbol für die Reichsidee des Heiligen Römischen Reiches sowie für Herrschaft und Macht der Könige bzw. Kaiser. Eine Krönung ohne die Insignie Reichskrone galt als illegitim und wurde nicht anerkannt. Auch der religiös fundierte Führungsanspruch des Herrschers wurde durch verschiedene in die Krone eingearbeitete Zeichen symbolisiert.
Die Reichskrone ist nach bislang dominierender Ansicht frühestens für Otto I. (912-973) und spätestens für Konrad II.(990-1039) angefertigt worden, wobei die einzelnen wissenschaftlichen Meinungen jedoch weit auseinander gehen.
Die erste schriftliche Beschreibung der Reichskrone stammt jedoch erst aus dem Jahr 1198, als Walther von der Vogelweide zur Krönung Philipps von Schwaben ein Spruchlied verfasste.
Im Mittelalter war das Königtum weitestgehend eine Reiseherrschaft. Daher wurde die Reichskrone, wie auch die anderen Reichsinsignien, nur zu besonderen Anlässen mitgeführt. In der Regel wurden sie an sicheren Plätzen in Reichsburgen, Klöstern oder an anderen sicher gewähnten Orten verwahrt.
Während der Hussitenkriege von 1419 bis 1436 kam es zu einer Zäsur. Die böhmischen Hussiten versuchten sich der Reichskleinodien zu bemächtigen, die zu jener Zeit auf Burg Karlstein aufbewahrt wurden. König Sigismund gelang es zwar, den Schatz nach Ungarn auf die Burg Visegrád zu retten, dort waren die Kleinodien aber auch nicht sicher, da Ungarn nicht zum Reich gehörte, obwohl Sigismund zu dieser Zeit ebenfalls ungarischer König war.
Die wohlhabenden Reichsstädte waren im 15. Jahrhundert bedeutende Stützen des HRR. Eine der größten und bedeutendsten Reichsstädte war damals Nürnberg. So kam es, dass Kaiser Sigismund mit der Stadt Nürnberg verhandelte, um die Reichskleinodien auf ewige Zeiten, unwiderruflich und unanfechtbar aufzubewahren. Zu diesem Zweck verlieh er der Stadt am 29. September 1423 das Privileg „Hort des Reichsschatzes“. Die Verleihungsurkunde spricht dabei von den Kleinodien als unser und des Heiligenreichs Heiligtum. Die Kleinodien sollten fortan jährlich am vierzehnten Tag nach Karfreitag öffentlich bei den sogenannten Heiltumsweisungen gezeigt werden. Von diesem Zeitpunkt an verließen die Reichskleinodien Nürnberg nur noch zu den Krönungen der deutschen Könige und Kaiser. Diese Prozedur der Verwahrung wurde bis Ende des 18. Jahrhunderts beibehalten.
Mit den Napoleonischen Kriegen und dem Vorrücken der französischen Truppen gegen Deutschland geriet auch Nürnberg in das Visier der Franzosen. Daher musste der Nürnberger Magistrat seinem Verwahrungsauftrag gemäß verfahren. Der Nürnberger Oberst Johann Georg Haller von Hallerstein wurde mit der Rettung der Reichskleinodien betraut. Dieser übergab den Schatz schließlich dem kaiserlichen Prinzipalkommisär am immerwährenden Reichstag in Regensburg, Freiherrn Johann Aloys Josef Freiherr von Hügel, der sie mit Bewilligung des Kaisers in seine Verwahrung nahm und sie am Hof der von Thurn und Taxis in Regensburg verwahrte.
Doch schon bald war der Schatz auch in Regensburg nicht mehr vor dem Zugriff der Franzosen sicher. Daher schaffte man, natürlich heimlich, die Reichskleinodien nach Wien und übergab sie der kaiserlichen Schatzkammer.
Napoleon gewann den Krieg, ließ sich zum Kaiser krönen und gründete den Rheinbund. Daraufhin legte Franz II. am 6. August 1806 die Krone des Heiligen Römischen Reiches nieder. Jedoch hatte Franz bereits 1804 das Kaisertum Österreich proklamiert, für das allerdings die Hauskrone Rudolfs II. verwendet wurde.
Dennoch war das HRR aufgelöst und erloschen und damit hatten auch die Reichsinsignien ihre Bedeutung verloren. Sie waren somit nur noch ein Schatz ohne Symbolkraft, der für eine fast tausendjährige Geschichte stand. Die einstigen Reichsinsignien blieben zwar in Wien, wurden jedoch zu Museumsstücken.
Dort verblieben die Reichskleinodien zunächst bis 1938. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich bestimmte Adolf Hitler, dass diese wieder nach Nürnberg zu bringen seien. Dort wurden sie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verwahrt. Am 4. Januar 1946 wurden die Reichskleinodien auf Veranlassung der amerikanischen Alliierten nach Wien zurückgebracht, wo sie bis heute deponiert sind.
Soweit zur Geschichte der Reichskleinodien, insbesondere der Reichskrone. Deren Alter, Herstellungsort und auch was deren Gestalt symbolisieren sollte, sind stark umstritten und die geltenden Auffassungen zum Teil weit auseinandergehend und spekulativ.
Ich denke etwas zur Geschichte der Reichskrone beitragen zu können, was anscheinend bisher keinem Historiker bekannt wurde.
Die Ottonen, das erste deutsche Königs- und Kaisergeschlecht aus dem Hause der sächsischen Liudolfinger, hatten ihre Hauptresidenz in Quedlinburg. König Heinrich I. gründete auf dem Schlossberg für seine Frau Mathilde ein Damenstift als Witwengut, dass sein Sohn Otto I. nach seiner Krönung 936 bestätigte. Ottos Tochter Mathilde wurde 966 erste Äbtissin des Stifts. Nach dem Tod Ottos II. 983 – Sohn und Nachfolger von Otto I. – gründeten Mathilde und ihre Schwägerin, Kaiserin Theophanu, 986 das Marienkloster. Es befand sich auf dem Münzenberg, der dem Schlossberg gegenüberliegt. Die Nonnen des Marienklosters sollten die Fürsorge für das Seelenheil des verstorbenen Kaisers Otto II. übernehmen.
Das Nonnenkloster wurde bei seiner Gründung reich mit Gütern ausgestattet. Zudem war es damals üblich, Stiftkirchen mit einem Stifts- oder Kirchenschatz zu versehen. Auch der des Marienklosters war prächtig, wertvoll und zudem geschichtsträchtig. Dieser Kirchenschatz beinhaltete unter anderem einen außergewöhnlich großen und reinen Smaragd sowie eine Kaiserliche Krone.
Mit der Reformation ging das Marienkloster unter und wurde aufgegeben. Der Klosterschatz jedoch kam in die Hände des Quedlinburger Damenstifts. Es folgten der Schmalkaldischen Krieg 1546/47. In dieser Zeit war Herzog Moritz von Sachsen Schirmvogt des Quedlinburger Stifts. Moritz lag jedoch im Streit mit seinem Vetter Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen. Der Streit endete mit einem Sieg des Kurfürsten der auch gegen Quedlinburg vordrang.
Äbtissin war damals Anna II. aus dem Hause der Grafen von Stolberg-Wernigerode. Kurfürst Johann Friedrich hatte Kenntnis von dem Quedlinburger Schatz bekommen und forderte per Befehl die Herausgabe der Kaiserkrone, des Smaragds, der Reliquie „goldener Arm Sancti Servatii“ sowie 100 kg Silber. Um den Kirchenschatz zu retten und vor dem gewaltsamen Zugriff des Kurfürsten zu bewahren, lies Anna II. ihn heimlich zu ihren Verwandten auf dem Schloss in Wernigerode schaffen. Doch wie immer und überall gab es auch hier einen Verräter, der dem Kurfürsten den heimlichen Abtransport mitteilte. Der Kurfürst forderte daraufhin den Grafen von Wernigerode auf, den Schatz herauszugeben. Doch Graf Wolf von Wernigerode weigerte sich angeblich den Schatz herauszugeben.
Dieser von mir geschilderte Ablauf sowie eine Schatzliste sind verbrieft. Jedoch brechen dann die Nachrichten ab. Wo die Krone, der Smaragd und der Goldene Arm abgeblieben sind, bleibt bis heute unbekannt. Es gibt Vermutungen, dass die Wernigeröder Grafen den Schatz aus Sicherheitsgründen in ihre Oberrheinischen Güter schaffen ließen, jedoch gibt es dafür keine Beweise. Die Kaiserkrone ist bis heute verschollen.
Das diese Quedlinburger Kaiserkrone nicht die heute noch erhaltene sein kann ist unstrittig. Diese Reichskrone lag damals bereits gut verwahrt in Nürnberg. Dennoch ist durch die Quedlinburger Akten der Auftraggeber dieser zweiten Kaiserkrone wohl als Otto II. zu identifizieren und auch das Alter der Krone kann sicherlich in die Herrschaftszeit von diesem Kaiser gelegt werden.
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Große Entdecker und Erfinder – Erdölpionier Georg Hunaeus
Erdöl ist für uns ein fossiler Energieträger. Entstanden ist Erdöl aus Biomasse, die vorrangig aus Algen und Meereskleinlebewesen bestand. Besonders in den Randbereichen der Kontinente, die von Ozeanen bedeckt waren – von sogenannten Schelfmeeren, die besonders nährstoffreich waren – sank diese Biomasse auf den Meeresgrund ab. Unter bestimmten Bedingungen zersetzt sich die Biomasse nicht vollständig, es entstand ein Faulschlamm, der von Tonpartikeln und Sedimenten bedeckt wurde. In vielen Jahrmillionen entstanden so Sedimentfolgen mit hohem organischen Anteil. Zum Teil wurden in der Folge diese Sedimentstapel in tiefere Regionen der Erdkruste verschoben. Dadurch erhöht sich der Druck und damit auch die Temperatur, die auf die organischen Substanzen einwirkten. Bei Temperaturen bis etwa 60 Grad Celsius entstehen aus dieser Biomasse Kohlenstoffverbindungen, die als Kerogene bezeichnet werden. Erhöhte sich die Temperatur weiter – bis auf etwa 170 Grad Celsius – werden aus den Kerogenen flüssige Kohlenwasserstoffe: Erdöl. Bei Temperaturen, die 170 Grad Celsius überschreiten bildet sich in der Regel Erdgas.
Erdöl besitzt eine relativ geringe Dichte, die noch unter der von Wasser liegt. So kommt es häufiger vor, das beim Fehlen einer nach oben abdichtenden Gesteinsschicht das Erdöl auch aus größeren Tiefen bis an die Erdoberfläche aufsteigt. Dort wandelt sich das normalerweise relativ dünnflüssige Öl durch die Reaktion mit Sauerstoff und den Verlust leicht flüchtiger Bestandteile in eine teerartige Substanz, sogenanntes Bitumen oder Asphalt, um.
In dieser Form ist es den Menschen schon vor tausenden von Jahren augenscheinlich geworden. Und nicht nur dass, sie fanden zudem Anwendungen für diesen Bitumen. So wurde es durch vermischen mit anderen Substanzen zum Abdichten von Bootsplanken eingesetzt. Bei Griechen, Römern und Byzantinern kam es sowohl als Schmierstoff wie auch als Brennstoff zum Einsatz.
Über fast 2000 Jahre fand beim Erdöleinsatz kaum eine Weiterentwicklung statt. Den Menschen fehlte wohl auch eine Erklärung, woher dieses klebrige Material stammte.
Am 24. März 1802 wurde Georg Christian Konrad Hunaeus in Goslar geboren. Er entstammte einer alten Bergmannsfamilie, sein Vater war Bergfaktor und sein Großvater Zehnter beim Bergamt. Nach Abschluss der Schule ging Hunaeus 1819 nach Clausthal um an der dortigen Berg- und Forstschule zu studieren. Nach Abschluss seiner Studien als Markscheider wurde er um 1821 in dieser Funktion bei der Clausthaler Bergbauverwaltung eingestellt. Ein Markscheider war damals eine Art Vermessungsingenieur, spezialisiert auf Bergbauaufgaben.
Hunaeus drängte es jedoch nach Weiterbildung und so nahm er 1823 ein Studium an der Universität Göttingen auf. Sein Studium der Mathematik, Geometrie und Geodäsie schloss er 1825 ab. Neben seiner Tätigkeit als Markscheider wirkte er als Lehrer an verschiedenen Bildungseinrichtungen. 1834 siedelte Hunaeus als Oberlehrer nach Celle über. Obwohl er auf Grund seiner Lehrtätigkeit den Doktortitel erhielt, galt sein Interesse auch weiter der Geologie. Er vermass und kartierte seine Heimat und erlangte dadurch großes Ansehen. Später lehrte er am Polytechnikum in Hannover und wurde 1857 als Professor berufen.
Nachhaltig in die Geschichtsbücher brachte sich der Professor aus dem Harz aber durch seine praktischen bergbaulichen Kenntnisse. Die setzte er in der Lüneburger Heide, in Wietze bei Celle, ein. Dort waren schon seit Jahrhunderten kleine Teiche bekannt, die nicht mit Wasser sondern mit einer dickflüssigen, bläulichen Flüssigkeit gefüllt waren. Diese zähe Flüssigkeit – Erdöl – war zu bis zu dieser Zeit noch nicht verifiziert. Das „Erdpech“ wie es bezeichnet wurde, fand verschiedensten Einsatz als Arznei, Schmier- und Dichtmittel. Mehr aber wusste man nicht. Daher waren diese „Erdpechseen“ für Hunaeus und seinen Studienfreund, Salineninspektor Hahse, von grundlegendem wissenschaftlichen Interesse. Es muss allerdings erwähnt werden, dass zu jener Zeit nicht nach Erdöl, sondern nach Braunkohle Ausschau gehalten wurde. Und die beiden Bergbauspezialisten vermuteten unter den „Erdpechseen“ entsprechende Braunkohlelagerstätten. So wurden sie vom Innenministerium in Hannover mit entsprechenden Bohrungen beauftragt, deren Leitung Georg Hunaeus übertragen wurde. Diese Tiefbohrungen in Wietze in den Jahren 1857 bis 1859 waren garantiert die ersten ihrer Art in Deutschland. Und sie waren mit großer Wahrscheinlichkeit auch die ersten weltweit! Dennoch brachten sie nicht den gewünschten Erfolg, denn statt Braunkohle fand man Erdöl.
Ein Harzer Bergbaufachmann hat also Bergbaugeschichte geschrieben und einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Erdölentdeckung und somit zur Industrialisierung geleistet. Die praktische Auswertung und die wirtschaftliche Nutzbarkeit fanden zwar erst etwa 20 Jahre später statt, was den Leistungen von Prof. Dr. Hunaeus aber keinen Abbruch tut. Schließlich gingen die Bohrungen, mit den einfachen technischen Möglichkeiten, über 40 m tief und waren zudem wohl die ersten ihrer Art.
Für seine Verdienste wurde Prof. Dr. Hunaeus zum Geheimen Regierungsrat ernannt. Kurz nach seinem 80. Geburtstag starb Georg Hunaeus 1882 in Hannover. Sein Name bleibt für immer mit der Entwicklung der Erdölindustrie verbunden, die vor über 150 Jahren in der Lüneburger Heide begann.
Große Entdecker und Erfinder – Kokainentdecker Albert Niemann
In loser Folge möchte ich in nächster Zeit einige bedeutende deutsche Entdecker, Erfinder und Ingenieure vorstellen, deren Leistungen wir zwar alle kennen, die uns jedoch als Persönlichkeiten weitgehend unbekannt geblieben sind.
Wir jubeln Künstlern zu, Dichtern und Schriftstellern, mitunter auch religiösen Führern oder Politikern. Doch wer bejubelt schon Entdecker, Erfinder oder Ingenieure? Bereits seit Beginn der Industriellen Revolution weisen Technikphilosophen auf die Bedeutung von Entdeckertum und Ingenieurkunst hin, geändert hat sich jedoch bis heute nicht viel.
Albert Niemann – der Kokainentdecker
Schon bei den frühen Entdeckungsreisen, über den Altlantik, nach Südamerika wurden Entdecker auf den Cocastrauch aufmerksam. Die Einheimischen kauten die Blätter des Strauches. Für sie waren die Blätter Genussmittel und Nahrungsergänzungsmittel zugleich, zudem wurden sie für kultische und medizinische Zwecke genutzt.
Die ersten Cocasträucher kamen 1750 aus Südamerika nach Europa. Die Wirkung der Blätter faszinierte, jedoch war die Chemie noch nicht in der Lage die Wirkstoffe zu analysieren. Das tat als erster Albert Niemann im Jahr 1859/60.
Albert Friedrich Emil Niemann wurde am 20.Mai 1834 als Sohn eines Lehrers in Goslar geboren. 1849 wurde er Lehrling in der Göttinger Ratsapotheke. Nach Abschluss seiner Lehre begann Niemann 1852 an der Universität Göttingen Pharmazie und Botanik zu studieren. Zudem besuchte er Vorlesungen zur Chemie bei Prof. Dr. Friedrich Wöhler. Um seine Studien zu finanzieren arbeitete er bis 1858 in der Krankenhausapotheke in Linden bei Hannover. In jenem Jahr begann Albert Niemann auch sein pharmazeutisches Staatsexamen an der Universität Göttingen abzulegen. Dazu besuchte er auch Vorlesungen in Physik und Mineralogie. Zudem erhielt er die Möglichkeit als Assistent im Labor von Prof. Wöhler tätig zu sein.
Der österreichische Abenteurer Karl von Scherzer brachte 1859 von der Novara-Expedition auf Bitten Wöhlers einen Ballen Kokablätter nach Göttingen mit. Die Novara-Expedition (1857–59) war die erste und einzige groß angelegte Weltumsegelungsmission der Kaiserlich Österreichischen Kriegsmarine. Weltweit bekannt wurde sie durch die später als Bestseller in mehreren Sprachen veröffentlichten Berichte über die wissenschaftliche Ausbeute der Reise.
Bedingt durch sein Studium der Pharmazie und Botanik begann sich Niemann für die Cokablätter zu interessieren. Er isolierte 1860 als erster das Kokain in kristalliner Form aus diesen Kokablättern und gab ihm seinen Namen. Bei genaueren Untersuchungen stellte er unter anderem fest, dass es bei 98 °C schmilzt und beim weiteren Erhitzen in Salz- und Benzoesäure sowie Methanol und Ekgonin zerfällt.
Albert Niemann konnte seine Untersuchungen nicht vollenden und musste schwerkrank zu seiner Familie nach Goslar zurückkehren, wo er kurze Zeit später mit nur 26 Jahren am 19.01.1861 verstarb. Wahrscheinliche Todesursache war eine Vergiftung mit Senfgas, mit dessen Erforschung sich Niemann vor seinen Kokain-Studien intensiv beschäftigt hatte. In seiner Arbeit „Ueber die Einwirkung des braunen Chlorschwefels auf Elaylgas“ beschreibt er ein „dem Meerettichöl gleichendes und mit einem ähnlichen, wenn nicht so heftigen penetranten Geruch begabtes Öl“. Wahrscheinlich handelt es sich um Dichlordiäthysulfid, eine hochgiftige Substanz. Niemann erforschte und beschrieb diese Substanz und wurde auch ihr erstes Opfer, bevor sie als Senfgas (chemisches Kampfmittel) im 1. Weltkrieg eingesetzt wurde und tausenden Soldaten das Leben kostete.
Nach seinem Tod führte sein Kollege Wilhelm Lossen (1838–1906) seine Arbeiten weiter und bestimmte 1862 die Summenformel des Kokains C17H21NO4. Im 1879 Jahr entdeckte Vassili von Anrep (1852–1927) an der Universität Würzburg die schmerzstillende Wirkung des Kokains. Um 1884 kam es als lokales Anästhetikum in Deutschland in klinischen Gebrauch. ungefähr zur selben Zeit, als Sigmund Freud über dessen Wirkungen in seinem Werk über Coca schrieb: „Die psychische Wirkung des Cocainum mur. in Dosen von 0,05 bis 0,10 Gramm besteht in einer Aufheiterung und anhaltenden Euphorie, die sich von der normalen Euphorie des gesunden Menschen in gar nichts unterscheidet. Es fehlt gänzlich das Alterationsgefühl, das die Aufheiterung durch Alkohol begleitet, es fehlt auch der für die Alkoholwirkung charakteristische Drang zur sofortigen Betätigung. Man fühlt eine Zunahme der Selbstbeherrschung, fühlt sich lebenskräftiger und arbeitsfähiger; aber wenn man arbeitet, vermisst man auch die durch Alkohol, Tee oder Kaffee hervorgerufene edle Excitation und Steigerung der geistigen Kräfte. Man ist eben einfach normal und hat bald Mühe, sich zu glauben, dass man unter irgendwelcher Einwirkung steht.“
In den folgenden Jahrzehnten fand Kokain Eingang in zahlreiche medizinische Anwendungen. In der ersten Rezeptur des Erfrischungsgetränks Coca-Cola war bis 1906 einen Extrakt aus Cocablättern (und erhielt so seinen Namen) enthalten, sodass ein Liter Coca-Cola rund 250 Milligramm Kokain enthielt. Auch heute enthält Coca-Cola noch – allerdings nichtalkaloide – Inhaltsstoffe der Cocablätter. Auch sonst war Kokaingebrauch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa weit verbreitet und legal. Die Gefährlichkeit der Substanz wurde nur allmählich erkannt, denn Kokain ist eine Rauschdroge mit hohem psychischen aber keinem physischen Abhängigkeitspotenzial.